RELEASE 12 2004 – 2024

Tiziana Bertoncini, Thomas Lehn – Live at Saint-Merri

2004 – 2024

Für das Jahr 2024 sind mehrere Veröffentlichungen geplant. Unter der Prämisse, den nostalgischen Blick nach hinten zu wagen, wird der heutige Standpunkt zu dem jeweiligen Werk – in Form des Erinnerns – persönlich durch die Urheber und Interpreten reflektiert.

Die Idee entstand beim Durchstöbern alter Festplatten: Auffällig war, wie viele musikalische Arbeiten der vergangenen Jahre liegen geblieben sind. Die Gründe hierfür sind sicher mannigfaltig. So war man beispielsweise nicht zufrieden mit der Arbeit, die gewünschten Labels hatten ihren Katalog bereits geplant oder das Projekt zerrüttete sich, aufgrund der sich immer wieder verändernden Lebensrealitäten beteiligter Akteure.

Es geht darum, in den Zwischenräumen zu suchen und dem ein oder anderen Werk den Weg aus dem Archiv in die Öffentlichkeit zu ebnen. Und darüber hinaus die nach Vorne orientierten und auf Effizienz getakteten Produktionsbedingungen in Frage zu stellen.

2013 Way Back Machine: http://www.anti-matter-plant.org/

Release 12

Tiziana Bertoncini (Violine) und Thomas Lehn (EMS Analogsynthesizer)

Der Konzertmitschnitt entstand im Rahmen des Festivals Imprudences 28. Mai 2015 in der Kirche Saint-Merri in Paris durch Massimo Carrozzo.

Tiziana Bertoncini: Welche Erinnerungen weckt dieses Konzert 2015 bei mir? Die Ankunft in Paris CDG am Terminal 1 mit seinem Netz von Rolltreppen und Laufbändern; Thomas bemerkt beim Abstieg, bereits außerhalb des Sicherheitsbereichs, dass er seinen Synthesizer im Flugzeug vergessen hat. Mit einem Sprung, der an Jason Bourne erinnert, springt er von der abwärts fahrenden Rolltreppe auf die aufwärts fahrende, um zurückzulaufen und sein Instrument zu retten (was ihm auch gelingt!).

Dann mieten wir ein Auto, das wir am nächsten Tag brauchten, um in die Region La Creuse und dann in die Auvergne zu fahren und meine Klanginstallation Sinfonia Invisibile im Rahmen des Land-Art-Festivals horizons aufzubauen. Wir fahren die Pariser Periferique entlang, mit Warteschlangen und Dutzenden von Motorrollern, die von links und rechts überholen und zwischen Autos hindurchfahren. Dann, endlich im Zentrum angekommen, lassen wir das Auto auf dem Parkplatz vor dem Centre Pompidou stehen, das sich neben der Kirche Saint Merri befindet.

Wir spielen noch am selben Abend. All diese etwas stressigen Umstände sind in der Musik überhaupt nicht zu spüren. Ich kann noch einen weiteren ‘Rückschlag’ erwähnen, und zwar, dass aus irgendeinem Grund die Verbindung zwischen Synthesizer und Geige für das sound-processing nicht funktionierte. In diesem Fall empfand ich dies jedoch nicht als Rückschlag, denn ich spiele auch gern ohne Klangmodulation durch den Synthesizer, insbesondere dann, wenn die Akustik des Konzertraumes wunderbar ist, wie in diesem Fall in der Kirche Saint Merri.

Solche Missgeschicke passieren nicht sehr oft. Das ‘ungebundene’, aber durch gegenseitiges tiefes Zuhören verbundene Spielen gibt der Musik einen anderen Atem und Klarheit. Und so hat dieses Stück eine besondere Weite und Transparenz, eine Dimension, die vom Kontingenten und Alltäglichen völlig abgekoppelt ist.

Thomas Lehn: Ergänzend zu Tiziana’s Schilderungen, die ich gänzlich teile und hier nicht wiederhole, erinnere ich noch, dass mich die Kirche Saint Merri in ihrer so-Belassenheit beindruckt hatte: ein Raum, der keinem Spuren der Zeit übertünchenden Sanierungswahn zum Opfer gefallen ist. Die uralten Möbel und Einrichtungen, die gerade in ihrem So-belassen-sein, in ihrer Abgenutztheit Geschichte zeigen. Dazu das Dunkel und die Kühle des Kirchenraumes, mit seinen sicht- wie unsichtbaren Höhen und Weiten, mit in die letzten Winkel sich erstreckenden Ausklingzeiten. Eindrücke, die einen Jahrhunderte zurückzuversetzten scheinen und (un)bewusst in das Konzert einflossen.

   

Das Duo von Tiziana Bertoncini und Thomas Lehn reicht zurück bis in das Jahr 2002. Ihr geteiltes Interesse an einen erweiterten Begriff der neuen Musik, welcher Improvisation, Komposition, Interpretation und Performance gleichermaßen in das künstlerische Wirken einbindet, bildet die gemeinsame Basis ihrer Zusammenarbeit.

Eine hervorstechende Besonderheit ihrer Musik ist die klangliche Alchemie, die durch das Aufeinandertreffen des klassisch-akustischen und des elektronischen Instruments hervorgerufen wird: Die wesensverschiedenen Eigenschaften von Violine und Synthesizer suggerieren auf den ersten Blick ein reibungsvolles Aufeinandertreffen zweier grundverschiedener Klangwelten. Was jedoch tatsächlich erlebbar wird ist eine Art klangliches Spiegelkabinett, in welchem sich die Rollen der Instrumente fortlaufend austauschen. Bertoncini und Lehn bewegen sich in abstrakten, zeitgenössischen Territorien. Nichtsdestoweniger ist ihre Musik gerade auch klassisch insofern, als sie mit den Mitteln von Spannung-Entspannung, mit Brüchen, Intensität und Ausdruckskraft und all deren Facetten geformt und getragen wird.

Tiziana Bertoncini absolvierte Studiengängen in Violine und Malerei. Sie arbeitete als Interpretin in Orchestern und Kammermusikensembles sowie in Tanz- und Theaterstücken. Seit vielen Jahren gilt ihr Interesse der zeitgenössischen Musik und Improvisation. Ihre Arbeit entwickelt sich aus der Interpretation und Improvisation, zu Komposition und Zusammenarbeit mit Künstlern anderer Medien. Generell gilt ihr Interesse der Synthese und der Kreuzung von visueller Elemente und Musik. Sie war zu Gast bei einer Vielzahl internationaler Festivals. Sie hat bei Tanz-, Theater-, Video- und anderen Multi-Media-Projekten mitgewirkt und maßgeblich zur musikalischen Gestaltung beigetragen. Ihre “solo” Arbeit umfasst Kompositionen, Performances und Installationen. Sie ist Mitglied des ensemble]h[iatus, das sich mit Interpretation und Improvisation beschäftigt. Sie war Stipendiatin des “Bridge Guard Residential Art/Science Centre” in Stúrovo (SK), des A.I.R. Krems (A), des Centre National de Création Musicale Césaré, Reims (F), des Künstlerhaus Eckernförde Otte1 und des GEDOK Lübeck.

Thomas Lehn wurde an den Musikhochschulen in Detmold und Köln zum Tonmeister und Pianisten ausgebildet. Als Pianist verschiedener Ensembles - gegenwärtig des ensemble]h[iatus – zahlreiche (Ur)Aufführungen musikalischer, musiktheatralischer und multimedialer Werke. Seit 1989 arbeitet er auf dem Gebiet der live-elektronischen Musik erzeugt mit analogen Synthesizersystemen. Neben seinen eigenen in Echtzeit realisierten elektronischen Arbeiten ist er seit Jahren auch als Synthesizerinterpret tätig. Er brachte elektronische Kompositionen von Élaine Radigue, Bogusław Schaeffer, Zbigniew Karkowski, Anthony Pateras und Peter Jakober zur Aufführung. Seine Studiorealisationen der Werke von Schaefer, Pateras, Jakober und Roman Haubenstock-Ramati wurden auf CD veröffentlicht. Internationale Festivalgastspiele und Konzertreisen – als Solist und als Mitglied einer Vielzahl international besetzter kontinuierlich arbeitender Ensembles – führten ihn durch ganz Europa, Australien, Neuseeland, Russland, Japan und Ostasien sowie wiederholt durch nordamerikanische Staaten. Sein Wirken ist auf ca. 100 Tonträgermedien dokumentiert.

Website: Bertoncini/Lehn

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