PARASITÄRE ÖKOLOGIEN

Daniel Fetzner, Martin Dornberg, Ephraim Wegner

Daniel Fetzner und Ephraim Wegner

Die Formen der Mediennutzung werden zunehmend interaktiv, partizipativ und kollaborativ. In jedem Fall aber sind sie parasitär. Ein Streifzug durch eigene Projekte künstlerischer Forschung versucht, das medienökologische Geflecht aus Mensch und Umwelt neu zu kartografieren. Im Rahmen der Antrittsvorlesung Parasitäre Ökologien von Daniel Fetzner entstand in Zusammenarbeit mit Ephraim Wegner eine Video- und Klang-Installation. Bewegungen von Ameisen wurden analysiert, in Echtzeit durch ein Partikelsystem interpretiert und mittels Granularsynthese und Ambisonic-Verfahren im Raum spatialisiert.

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Martin Dornberg und Daniel Fetzner
Das parasitische Manifest – Kritik der parasitären Vernunft

Parasiten: natürlich sind das diese kleinen Tiere, Lebewesen, Bakterien, Pilze, Würmer, Schnecken, Krebse, die sich einnisten, Wirte finden, diese besiedeln, sich eine Umwelt schaffen, Umwelten verändern – sich und den Wirt.

Parasiten: auch auf uns Menschen, in uns, mit uns. Im Darm, auf der Haut, den Schleimhäuten, Mund, Magen, Ohren. Und in unseren Zellen, vor Jahrmillionen, jetzt als Organellen, Mitochondrien. Möglicherweise mit mehr Intelligenz, mit mehr neuralen Strukturen, als unser Gehirn. Der Darm hat sowieso mehr. Die Evolution als Koevolution, jede Umwelt eine Vielfalt ko-evolutionärer Umwelten. Uexküll nennt das Kompositionslehre der Natur, Symphonie, Serres Kakophonie, Lärm. Der Parasit schafft und beschreibt Ordnung und Unordnung, Leben und Störung, Abbruch, Tod.

Koevolution bedeutet: Umwelten werden ständig internalisiert und externalisiert. Der Parasit wird internalisiert, eingeatmet, gegessen – und bringt Teile seiner Umwelt mit, baut sie ein. Die Evolution lebt nicht nur von der Mutation, sondern von dem einverleibten Fremden. Auch unsere Umwelten, die der Menschen, sind in uns, unserem Verhalten, unserem Körper, unserem Gehirn. Über Jahrmillionen: Reptiliengehirn, Archetypen, das kulturelle Unbewusste – alles in uns. Und wird zugleich durch Erleben und Verhalten ständig wieder entäußert: Materie, Stein, Ritual, Erziehung. Die Echse, das Meer, das Totemtier, alles zugleich in uns und alles reaktualisiert, entäußert. Mal mehr, mal weniger, mal nicht. Wenn es extended mind gibt – woran kein Zweifel besteht -, wessen mind genau ist in uns, durch uns? Der Parasit lebt! Er lebt durch uns.

Der Parasit steht also nicht für sich selbst allein, sondern für alle Umweltbildungen, Verkörperungsformen, Gefügebildung seit Beginn der Zeit. Er begreift Mensch, Natur und auch die Dinge mit ein, die Technik. Er ist/bedenkt den ultimativen Cyborg, das Hybride, die techno-ökologische Bedingung unserer Existenz. Die Dinge sind auch in uns. Sie haben unsere Umwelten, unsere Hände, unser Be-greifen, unser Sehen, unsere Körper und Kulturen seit jeher geformt. Thinking ist thinging. Die Natur, die Dinge, die Technik: ihre Performativität hat schon immer mitgewirkt, mitgewebt, mitgedacht – in jeder Zelle unseres Körpers, unseres Denkens. Wir nennen es dritte Körper.

Verkörperung findet bei jedem Lebewesen ständig statt. Tätigkeiten und Sinne formen unsere Gehirne, unsere Körper, unsere Genexpressionen. Ständig wird inkorporiert, ständig anders exprimiert. Über Spiegelneurone sind wir mit Anderen verbunden, ihrem Schmerz, ihrem Ekel, ihren Bewegungsintentionen. Unser sensomotorischer Kortex wird ständig neu geformt, ständiger Aufbau und ständiger Abbau von Netzwerken, Umwelten. Mit jedem Avatar, jeder SMS, jeder virtuellen oder analogen Wahrnehmung verändern wir unsere somatic cognition, passen uns an, werden parasitiert und parasitieren.

Die Parasiten, die Dinge, die Techniken wandern in uns ein. Tägliche Migration. Das Werkzeug, die Maschine, jetzt das Netz, Ambient Media, Smart Dust. Zuerst verlängerten wir unsere Formwünsche, unsere Zwecke in die Umwelt hinaus. Form-Stoff: erst durch Werkzeuge, dann unabhängiger: durch Maschinen. Diese Entwicklung hat das Zeitalter des Mangels beendet. Allein von den Abfällen könnten wir die ganze Menschheit ernähren. Die Arbeit, das Reich der Notwendigkeit wird immer weniger not-wendig. Die Angst, das Sicherheitsdenken der Vorzeit parasitieren uns allerdings immer noch, machen uns zu Zombies der Vorzeit. Dieses Sicherheitsdenken ist genau der Pilz, welcher uns Ameisen paralysiert.

Die Form-Stoff Funktionalität, die Zweck-Ziel Logik kommt mit der Entwicklung der Technik, des Überflusses jetzt an ein Ende. Finis Hominis, das Ende der Dominanz der Zweck-Form. Überfluss ist möglich. Wir können tausend gemeinsame Netze schaffen, commons. Wir finden keine reinen Form-Zweck-Verhältnisse mehr: wir finden Hybride, tausend und abertausend Ökologien, Mischungsverhältnisse, Ununterscheidbarkeitszonen.

Das ›ant-ernet‹. Wissen ist keine knappe Ressource mehr, sondern jederzeit bereit. Viel mehr wird möglich, jeder Schüler kann alles wissen, alles kritisieren, alles mitbestimmen. Das Zeitalter der Inkompetenz stirbt ab. Potentiell bedeutet dies das Ende des Individualismus, das Ende des Egoismus. Teilhabe und Teilgabe überall. Das Parasitieren hat eine neue Größendimension erreicht: wir parasitieren die Cloud, die Cloud parasitiert uns.

Das ›Anthropozän‹ hat begonnen: die Natur ist durch und durch mit dem Menschen vermengt. Die Oberfläche und schon die Tiefe der Erde sind vom Menschen parasitiert. Abermillionen Plastikteilchen, Nanopartikel, Antibiotika, Hormone. Ich esse keine »Ente« mehr. Ich esse ein de-naturiertes Hybrid.

Always-On. Jede Wahrnehmung, jede Bewegung ist tendenziell von Smartphone-Technologie strukturiert. Wir sind überall und nirgends und doch dort und nicht da. Wie können wir das An- und Aus-schalten lernen, das Dabeisein und Weggehen? Tiefenfähigkeiten und Breitenfähigkeiten, Tiefenmedialität und Multi-tasking. Anthropozän, Technozän, Parasitozän. Omnia sunt venena,nihil est sine veneno. Sola dosis facit venenum. Nur die Dosis macht das Gift: alles ist eine Frage der Immunologie, der Abwehrkräfte. Allgemeine Pharmakologie, allgemeine Parasitologie. Nihil est sine parasitum. Das Anthropozän ist jetzt, das Antropozän bist Du. Der Parasit ist jetzt, der Parasit bist Du!

Der Parasit fragt nach dem, wie etwas ist, wird, und wie etwas erkannt wird. Wie übrigens, nicht was! Es geht um eine in vielen Teilen neue Ontologie und Epistemologie. Alles wird ökologisch, ökotechnisch, parasitär, historisch. Das Transzendentale wird empirisch, kontingent. Auch die Dauer wird kontingent, quantitativ. Mehr oder weniger lang. Und voller unterschiedlicher Temporalitäten, eigener und fremder Zeiten. Immer fehlen halbe Sekunden.

»Empirie!«, sagt der Parasit und implementiert seine Zeiten, seine Dauern, seine Halbsekunden, seine Mikrobedingungen in unsere inneren und äußeren Umwelten, unsere Verkörperungsformen – und passt sich zugleich an seine Wirte an. Universale Symbiogenese.Auch Denken und Erkennen werden parasitär, vom Parasiten befallen, zersetzt, besetzt, erweitert, selbst Parasit. Das Zeitalter der Repräsentation hat ein Ende gefunden. Die adäquatio res et intellectus hat ihren Stellen-Wert, ihre Begrenzung erreicht. Sie wird zum Mitochondrium, zur Energiequelle. Sie wird Bestandteil, nicht Chef. Sie wird Gewürz, Werkzeug, Prise, Brise.

Statt repräsentativ wird Denken performativ, Handeln. Arbeitet – wie alles – parasitisch, perspektivisch, mit blinden Flecken. Faltet und spaltet, durchquert, erzeugt Reibung, Wärme oder Kälte, Abfall. Denken ist Pharmakon, Gift und Geschenk zugleich. Denken und Erkennen bilden nicht mehr ab, sondern spalten auf, zeitigen Neues, neue Erkenntnis- und Handlungspartikel. Mikro- und Mesoklone, tausend Energie- und Stoffquellen, millionen Stoffwechselprozesse des Denkens; Austauschprozesse zwischen dem Denken und seinem je Anderen. Gene und Meme wachsen zusammen.

Denken, Handeln, Wahrnehmen und Bewegen und ihre Abermillionen dinglichen und nicht-dinglichen Umwelten tauschen sich aus, oder überlappen sich nur, stehen nebeneinander. Alles stößt aneinander. Exponiert sich. Teilt oder trennt sich, reagiert oder reagiert nicht/ bleibt inert. Trotzdem wird es Bestandteil. Meistens.

Der Parasit wird zum Medium, zur Me(a)ssage, er ist nicht nur Metapher, nein: er wird zum Signum, zum Zeichen. Das Zeitalter des Transports, der Informationsübermittlung, der Repräsentation ist endgültig verstört. Wir leben in einem neuen Zeitalter, dem der Parasiten. Der Parasit beschwört die Störung, das Dritte. Tertium datur. Er stellt die Frage nach der Beobachtung; nach der Beobachtung der Beobachtung. Nach dem Erkennen des Erkennens (ihren Techniken und Täuschungen/Techne=List), nach dem Denken des Denkens, nach dem Ver-handeln jedes Handelns, nach dem Fühlen des Fühlens.

Durch das Parasitäre/das parasitäre Denken wird alles ausgehöhlt, vertieft, flächiger – je nach Bedarf, je nach Begehren, je nach Faltung. Jede Erkenntnis, jede Kulturtechnik, jeder Gedanke wird zur Durchquerung, zu einer Passage (Nord-West – wie bei Serres, oder Nord-Süd – wie im Postkolonialismus und der Ethnographie). Alles wird Ein-griff, ist ein Griff. Alles kann als performativ, als Exposition, als Medium aufgefasst und genutzt werden und – bei Interesse – als Experimentalsystem, zu Forschungszwecken. Der Parasit beforscht sich selbst. Ohne Forschung über sich, seine Umwelten, seine Wirte, seine Existenzbediungungen, seine Techniken und Listen und über die seiner Umwelten könnte er nicht leben, sich nicht weiterentwickeln. Der Parasit ist der Etho-Ethnograph par exzellence. Die Exzellenz ist ins kleine, ins Demütige abgewandert, sie krabbelt.
Kleine Fluchten, kleine Wanderungen, kleiner flektierter (=de-) Mut.

Techno-Etho-Ökologien überall, Psychoanalyse und Psychosomatik singen ein Lied davon (es schläft ein Lied in allen Dingen). Unsere Seelen, das Unbewußte, unsere Körper sind unterwandert von den Stimmen, Vorbildern, Traumata und Neurosen unserer Vorfahren, unserer bedeutungsvollen Anderen. Nicht nur von Papa und Mama – wovon Freud vor allem spricht – sondern von tausendundeiner Geschichte und ihren Nächten, von Traumata, von tausendundeinen Wegen und Parasiten, von denen der Ödipus nur einer ist. Andere heißen Auschwitz, Pferd, Ameise, Amethist, Zarathustra, Zecke usf. Uexküll und Tschernobyl sind überall. Wie das bewältigen, erforschen, greifen? Der Parasit hilft uns, er geht uns immer/schon immer voran, er zeigt und baut Nischen, besetzt Häuser, Therapie- und Seminarsitzungen, schreibt Bücher. The parasite has died, es lebe der Parasit.

Der Parasit will leben. Es gilt den Menschen zu schützen. Hunger, Herrschaft und traumatisierende Gewalt müssen geächtet werden. Der Parasit wird politisch: siehe »Das parasitische Manifest Teil 2«

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